Un hors-la-loi dans la tête – Zum Umgang mit JDD

Claudia Ritter,

« Wer schnell schreibt, muß lange nachgedacht haben », sagt er, und knallt kaltlächelnd in den Computer, was manch anderer nur mühsam in Worte zu fassen vermag. « 15 Minuten Arbeit plus 20 Jahre Erfahrung » meint er dazu lakonisch – und wird im nächsten Moment lyrisch, weil ein Klempner uns aus dem überfluteten Keller rettet. Zum Dank schenkt er ihm ein Bild seines Vaters. Das ist typisch für ihn.

Jacques De Decker, laut Eigendefinition topographisch ein Flame, und sprachlich 100%ig frankophon, ist ein Gratwanderer und Grenzgänger. Er besitzt eine tiefgründige Abneigung gegen Rezepte, gegen Richtlinien, gegen Packordnungen, gegen jede Befehlsform „Man tue“ oder „Man lasse“. « Je suis un hors-la-loi dans la tête », verkündete er unlängst – und erhob Casanova und Arsène Lupin zu seinen literarischen Pendants. Emst Jünger verteidigt er ebenso glaubwürdig wie den Krypto-Kommunisten jüngeren Datums. Genauso selbstverständlich bleibt der Hochstapler ein Schuft und ist der Klempner ein Zauberer, ist Handwerk Kunst und bleibt Kunst ein Handwerk. Wenn er beurteilt, dann nicht nach Ansehen und Erfolg, nach Ideologien und liebgewonnenen Klischees. Professionalität bestimmt seine Kritiken; Übereinstimmung seine Freundschaften, seine Wahlverwandtschaften, wie er sagt. « Complicité, évidence, imaginaire en commun ».

Mit ihm zusammenzusein ist immer ungewöhnlich. Er funktioniert nicht nach herkömmlichen Maßstäben, er « funktioniert » kein bißchen. Zu halben Sachen läßt er sich nicht zwingen, er sucht keinen sicheren Platz bei den Säulen und pfeift auf alle Bequemlichkeit. Immer möchte er einen Fuß über die Schwelle setzen. Immer sucht er dort etwas, wo keiner etwas sucht : und findet. Ein Cartesianer im Geist und Traumtänzer des Imaginären zugleich. Ein Komponist, der bestimmte Klangfarben im voraus empfindet. Sein Instinkt ist untrügbar.

« Le cœur, la seule montre exacte à mesurer le temps, ce temps vivant jamais égal à lui-même, mais toujours fidèle à ce que nous sommes, c’est-à-dire fidèlement variable… » so begann der Text, von Claude Roy, den er im Spätsommer 1994 seiner Veröffentlichung von „Fitness“ voranstellte. Sein Herz blieb knapp drei Monate später 20 Minuten lang stehen. Seitdem haben wir ein neues Datum : Vorher-nachher. Und eine neue Maxime: Primum vivere. « Zuerst das Leben », sagt er ; und sorgt zugleich dafür, daß das Schreiben darüber nicht zu kurz kommt.

« Je pars dans ma retraite », sagt er, wenn es mal wieder soweit ist, packt seine Reisetasche und entschwindet in sein privates Wölkenkuckucksheim. Ein Reich, das auf Gemeinsamkeit und Vertrautheit nicht ausgelegt ist. Schreiben ist ein einsames Geschäft, wie das Fischen. « Der Dichter ist ein leichtfertig Ding », steht bei Plato, « hat Flügel und ist heilig. »

Seinen Leser – der Phantasie hat und Witz, Wissen und Sensibilität – wird er nie düpieren, irritieren, decouvrieren, entäuschen. Nie wird er ihm besserwisserisch begegnen, denn er ist sich klar darüber, daß er selbst nichts weiß. Eleganz und Ironie, Lachen und Weisheit bilden den heimlichen Fluchtpunkt seiner Texte, die federleicht sind, unterhaltsam und unauslotbar zugleich. « Ce qui compte, c’est la séduction. »

Er gibt sich heiter, aber er zweifelt oft. Er knüpft leicht und schnell Beziehungen an, scheint ganz dem Augenblick verhaftet – und zieht sich genauso rasch in sich selbst zurück. Wenngleich nicht sichtbar. « Meine Verletzungen zeige ich nie », sagt er, « das ist meine persönliche Form des Dandyismus. » Folglich gibt er auch, ohne jemals Rückzahlung in der mühsamen Münze der Dankbarkeit zu erwarten. Und nimmt zugleich nichts, als stünde es ihm zu. Ein Lachen zu zweit, die Gesundheit, den Schlaf, die Freude ohne Betrieb, die Unabhängigkeit in nächtlicher Ruhe – die Entdeckung, daß reißender Jubel in der gewöhnlichen Ordnung möglich ist.

Er liebt nördliches Zwielicht. Indianersommer, Michaelistage aus Milch und Silber, Haut und Haare aus Luft und das Gefühl, kurz vorm Fliegen zu sein. Er liebt die Städte des Nordens, er sammelt sie: Montreal, Helsinki, Hamburg, Amsterdam, London, Edinburgh. Einzige Ausnahme ist Lissabon. Von dort schrieb er mir, als er eine Konferenz über Fernando Pessoa vorbereitete : « Une ville qui se lit comme un texte. Une découverte que je vous souhaite, si vous ne l’avez déjà faite – Meilleurs vœux, JDD. » Das war 1989. Zwei Jahre, bevor aus der ersten Person Einzahl die erste Person Mehrzahl wurde – und sich alles als teilbar erwies. Seitdem hat mein Kopf seinen Platz gefunden, liegt, wo er hingehört, im Schutz seiner Arme.

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